"sapere aude" – "wage es, weise zu sein" – ist ein ebenso aussagekräftiges wie wirkmächtiges Zitat, "Wahlspruch der Aufklärung" (Kant) und neuerdings Schmuck der Außenwand der Diltheyschule. Sowohl Kant wie Schiller zitieren es, allerdings in auffällig unterschiedlicher Bedeutung, was – so meine These – an den unterschiedlichen Quellen liegt, die den jeweiligen Zitaten zugrundeliegen.
Horaz fordert in seiner epistula 1,2 Lollius Maximus zum Studium der echten Lebensweisheit und damit zur Rettung und Gesundung ohne Aufschub auf: 'dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude' – "Wer beginnt, hat die Hälfte der Tat – wage es, weise zu sein".
Augustin beschreibt in seiner Schrift De animae quantitate den Versuch, seinem Freund und jüngeren Schüler Euodius eine eigenständige Rolle im Dialog zu übertragen, indem dieser die Verteidigung einer versuchsweise (von Augustin! – Euodius zeigt eine ausgesprochen Schüchternheit) entwickelten Definition von sensus gegen Augustins Position übernehmen soll, was der aber verweigert. Diese übergroße Vorsicht tadelt Augustin und zitiert dabei die explizit auf Horaz zurückgeführte kurze, aber prägnante Formel:
‘noli nimis ex auctoritate pendere, praesertim mea, quae nulla est; et quod ait Horatius: «sapere aude», ne non te ratio subiuget priusquam metus.’ (an.quant. 23,41) – "Häng nicht zu sehr von einer Autorität – besonders von meiner ab, die ja gar keine ist, und, was Horaz sagt: "Wage es, weise zu sein, damit dich die Vernunft eher als die Furcht bezwingt".
Zwar könnte auch der Aspekt eines lebensgeschichtlich frühen Beginns einer philosophischen Lebensweise auf einer weniger durchsichtigen zweiten Ebene mit evoziert sein, dennoch ist die Verschiebung offenkundig. Bei Augustin ist der Akzent zum eigenständigen Gebrauch der ratio weiterentwickelt, wie der anschließende Wunsch verdeutlicht (damit ist sapere wohl auch weniger grundsätzlich gefärbt als bei Horaz).
Schiller (“Über die ästhetische Erziehung des Menschen”, 1795, 8. Brief, zit. nach F.S., Sämtliche Werke, hg. v. G.Fricke und H.G.Göpfert, Bd. 5, München 9.Aufl. 1993, S. 590) hört aus dem Kantschen Zitat Horaz heraus (“Erkühne dich, weise zu sein.”). Der Akzent bei Kant („Beantwortung der Frage, Was ist Aufklärung“, 1784, zit. nach Werke, hg. v. W.Weischedel, XI, Frankfurt 1964, 53: ‘Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen’) liegt hingegen auf der Linie der augustinischen Mahnung zur Selbständigkeit, so dass das Zitat durch Augustin als entscheidende Station in der Wirkungsgeschichte dieses Wortes betrachtet werden muss.
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